Notwehr als Straftatbestand
In der Nr. 213 der Ketzerbriefe veröffentlichte Max Roth einen fesselnden Artikel über Hintergründe, Verlauf und Zielsetzung des französischen Volksaufstands der »Gelbwesten«. Einen Hinweis dieses luziden Artikels aufgreifend, schickten wir einen Prozeßbeobachter nach Paris, wo der Ex-Profiboxer Christophe Dettinger vor Gericht stand, weil er einer von entfesselter Polizeimeute niedergeknüppelten Frau das Leben rettete, indem er die gut ausgerüsteten uniformierten Schläger mit bloßen Fäusten vertrieb. Christophe Dettinger steht für den Heroismus der gesamten Volksbewegung, deren Entschlossenheit bislang auch mit brachialster Staatsgewalt nicht gebrochen werden konnte. Umso ernüchternder und enttäuschender präsentierte sich der Prozeßverlauf. Als verhängnisvollster, von Illusionen getragener Fehler erwies sich der vorsätzliche Verzicht auf Öffentlichkeit seitens des Angeklagten und seiner engsten Angehörigen. Man kann sich unschwer vorstellen, daß hinter den Kulissen eine Erpressung im Spiel war, etwa in der folgenden Art: »Wenn Du Deinen Mann nochmal sehen willst, dann sorge dafür, daß ...« In der törichten Annahme, der Verzicht auf Gegenwehr und Öffentlichkeit habe die Milde der Staatsgewalt zur Folge, wurde Christophe Dettinger wehr- und schutzlos den unversöhnlichen Feinden der Volksbewegung ausgeliefert. Als Quittung dafür, daß keine einzige Gelbweste vor und im Gerichtssaal zu sehen war, erging ein niederträchtiges Willkürurteil. Insofern ist der Prozeß ein Lehrstück: daß sich Illusionen nicht lohnen, daß das Einknicken vor der Staatsgewalt deren Brutalität erst richtig anstachelt, daß schließlich der einzig wirksame Schutz gegen Willkür und Kriminalisierung in der Herstellung von Öffentlichkeit besteht. Insofern ist die nachfolgende atmosphärische Schilderung von unverächtlichem Wert für gegenwärtige und zukünftige Protestbewegungen der Besitzlosen.
Peter Priskil
Der Gelbwesten-Aktivist und Ex-Boxer Christophe Dettinger vor der französischen Gesinnungsjustiz
– Ein Augenzeugenbericht –
Für den 13.2.2019 war der Prozeß gegen den französischen Ex-Boxer Christophe Dettinger vor dem Pariser »Tribunal Correctionnel« (Pariser Strafgericht) anberaumt. Dettinger war angeklagt wegen eines tätlichen Angriffs auf zwei Polizisten, die auf der Demonstration der Gelbwesten am 5. Januar in Paris eine am Boden liegende Demonstrantin mit Fäusten und Füßen traktierten, und hatte sich seit dem 8. Januar, also bereits mehr als einem Monat, in Polizeigewahrsam befunden. Um bei dem Prozeß dabeizusein, fuhr ich kurzfristig am Dienstag, 12.2., nach Paris. Die Ausdauer und Hartnäckigkeit, mit der hunderttausende von der Staatswillkür ins Elend gedrängte Franzosen seit mittlerweile 13 Wochen in ganz Frankreich für ihre Interessen demonstrierten und kämpften, hatten mich sehr beeindruckt; die unglaublich brutale Gewalt der zu zigtausenden bei jeder Demonstration aufgebotenen schwerbewaffneten sog. »Sicherheitskräfte« auf der anderen Seite, die an die zweitausend durch Blendgranaten, Gummigeschosse und Tränengasbomben schwerverletzten Demonstranten und die eingesetzten Provokateure und faschistischen Schläger, die die friedlichen Demonstranten diskreditieren sollten, hatten mich sehr entsetzt... Zum vollständigen Artikel als PDF
Nachtrag vom 10.7.2019:
Macrons Justiz läßt die Familie Dettinger am ausgestreckten Arm verhungern
Macrons Büttel verstehen sich nicht nur aufs Augenausschießen, sie sind auch in der Kunst des Verhungernlassens, der sogenannten sozialen Existenzvernichtung, bestens bewandert. Ein entsprechendes Willkürurteil gelangte durch 'Sputnik France' zu unserer Kenntnis (á propos: wo bleibt denn wieder mal unsere Wahrheitspresse?!). Nachfolgend geben wir den Artikel vom 20. Juni 2019 in vollständiger Länge und in deutscher Übersetzung wieder.
*
Die zur Unterstützung Dettingers eingesammelten Beiträge werden erst freigegeben, wenn das Pariser Bezirksgericht die Akte noch einmal überprüft hat. Der Richter muß entscheiden, wer der Bezugsberechtigte dieses Solidaritätsbeitrags ist.
Am 19. Juni hat der Richter im laufenden Verfahren den Versorgungsantrag der Familie von Christophe Dettinger abgelehnt, der darauf abzielte, die Blockierung der Solidaritätsbeiträge für den Ex-Boxer aufzuheben, so der 'Figaro', der die richterliche Verfügung zitiert. Das Verfahren muß am kommenden 9. Dezember vom Pariser Bezirksgericht noch einmal aufgenommen werden.
Der Richter hat entschieden, daß der ursprüngliche Bezugsberechtigte dieser Kollekte Christophe Dettinger und nicht seine Gattin Karine war. Dagegen hat die Anwältin der Familie, Laurence Léger, Einspruch erhoben.
„Wir sind der Ansicht, daß Karine Dettinger Bezugsberechtigte war, aber wir waren damit einverstanden, daß Christophe Dettinger das Geld erhält. Es läuft ja aufs selbe hinaus, denn die beiden sind verheiratet“, teilte sie dem 'Figaro' mit.
Zugleich beanstandete sie, daß „die Entscheidung nicht vor dem ersten Jahresdrittel 2020 fallen wird.“ Frau Léger zufolge hält der gegenwärtige Inhaber die Beiträge bis zu diesem Zeitpunkt in Beschlag, „ohne jedwedes Recht oder Anspruch“ darauf zu haben.
Die Rechtsanwältin der Plattform, Martine Samueli, stellt ihrerseits fest, daß die Beträge „bei [der Plattform] Leetchi verbleiben, bis die Justiz über den Vorgang befunden und entschieden hat, wer der Bezugsberechtigte ist“.
Die Solidaritätskasse für den Ex-Boxer, der bei der 8. Kundgebung der Gelbwesten am 5. Januar 2019 in Paris zwei prügelnde Polizisten mit Faustschlägen vertrieben hatte (wie auf Film festgehalten), wurde am Folgetag auf der Plattform Leetchi eingerichtet.
Die Familie von Christophe Dettinger fordert, daß ihm die von der Plattform seit dem 8. Januar zurückgehaltene Summe von 145.152,46 Euro ausgezahlt wird.
Darüber hinaus verlangen Christophe Dettinger und seine Gattin Karine drei Millionen Euro Schadensersatz von der Plattform Leetchi, insbesondere weil diese das Konto der Solidaritätsinitiative für weitere Einzahlungen zur Unterstützung des ehemaligen Boxers gesperrt hat.
*
Was für ein hinterfotziges Zusammenspiel einer parastaatlichen „Plattform“ und einer staatshörigen Justiz bei der sozialen Existenzvernichtung mißliebiger Personen. Aber noch einmal: Hat sich deren Wohlverhalten, d.h. der Verzicht auf Protestkundgebungen und politische Erklärungen bei der absehbaren Verurteilung von Christophe Dettinger, wirklich gelohnt? Ist das nicht der Tritt in den Hintern nach dem demonstrativen Kniefall?