Wozu ein Atheistenbund?
1. Der Atheismus ist keine Weltanschauung. Er schließt nur einige besonders irrationale Weltanschauungen aus. Er schaltet lediglich eine bestimmte falsche Vorstellung aus, ohne dadurch irgendwelche positiven Vorstellungen oder Ziele nach sich ziehen zu müssen, genauso wie es etwa ein »Alamiismus« (= »Unglaube an Hexen«) oder ein »Achloranthropismus« (= »Unglaube an grüne Männchen«) täte. Da die beiden letztgenannten Unglauben, denen sich prinzipiell unendlich viele weitere hinzufügen lassen, sehr weit oder sogar alternativlos verbreitet sind, existieren nicht einmal die entsprechenden Begriffe, und niemand vermißt sie. Mit dem »Atheismus« wäre es genauso, wenn nicht der Glaube an ein oder mehrere übernatürliche Wesen verbreitet wäre. Eine besondere Organisation für Atheisten, wie sie dagegen zur Pflege einer Weltanschauung, auch einer halbwegs elaborierten rationalen, nötig wäre (ohne Organisation z.B. keine Wissenschaft), ist daher von der Sache her überflüssig.
2. Nun ist aber das Fehlen eines Gottes oder ähnlicher Vorstellungen im Denken eines Menschen von außen bedroht. Der allergrößte Teil der Menschheit steht unter der Herrschaft oder dem sehr penetranten Einfluß von Organisationen, die ihm diese Vorstellung aufnötigen wollen. Da die Gottesvorstellung mit zugleich wenigstens minimaler Präzision und interindividueller Einheitlichkeit weder entstehen noch bestehen kann, ist ihre manipulatorische oder gewaltsame Infiltration von außen nötig. Alle Religionen arbeiten daher ausnahmslos mit List oder Gewalt oder beidem und verzichten niemals auf die Ausnutzung von Schwächesituationen (Kindheit, Krankheit, soziale Notlagen). Sie spüren und wissen, daß sie andernfalls nicht existieren können.
3. Da der Glaube an einen Gott falsch ist, ist er ständig bedroht. Er muß darum ununterbrochen mit einem bisweilen erheblichen Aufwand vor ihn aufhebenden Wahrnehmungen oder Denkoperationen geschützt werden. Da das wesentliche Mittel, mit dem er hergestellt und aufrechterhalten wird, der gleichförmige soziale Druck ist – ein Vorgang, der etwa in Ionescos »Nashörnern« verbildlicht wird –, wird er durch Löcher im Netz der mutuellen Selbstbestätigung induzierter Wahnvorstellungen grundsätzlich immer gefährdet. Anders ausgedrückt: jeder von einem Gläubigen wahrgenommene Ungläubige wirkt potentiell immer wie das Kind in Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider«. Diese Wirkung geht also schon von seiner bloßen Existenz aus. Aus diesem Grunde versuchen alle religiösen Organisationen, wenn sie es können, jeden einzelnen Atheisten zu eliminieren. Das beste Mittel dazu ist zweifellos seine physische Vernichtung, auf die sie deshalb niemals verzichten, wenn sie sie bewirken können. Sind sie dazu nicht in der Lage, so versuchen sie auf andere Weise, die von seiner Existenz für sie ausgehende Gefahr zu verkleinern, insbesondere durch Behinderung seiner Meinungsäußerung oder Druck auf seine soziale Existenz. Solange es Gläubige gibt, sind also alle Atheisten bedroht. Da sie durch ihre bloße Existenz die Gläubigen als solche potentiell bedrohen, bedrohen die Gläubigen die ihre – aber eben nicht durch ihre Existenz, sondern durch ihre unvermeidliche Aggression. Denn da die Gläubigen sich zu ihrem Glauben zwingen müssen, sein Fehlen jedoch keinen Aufwand braucht, macht die Kraft jedes sozusagen ansteckenden Beispiels ihren Aufwand noch höher (quält sie also subjektiv) und läßt sie daher das Verschwinden der Ansteckungsquelle wünschen bzw. betreiben. (Daß sie darüber hinaus versuchen, von ihnen gewünschte Verhaltensweisen auch allen anderen aufzuzwingen – man denke an die Einflußnahme der Kirchen oder der Ulema auf die Gesetzgebung, etwa Abtreibungsverbot oder Schweinezucht – sei hier nur zusätzlich erwähnt, ist aber von weniger grundsätzlicher Bedeutung als der schon beschriebene Zusammenhang.)
4. Da jeder Atheist, solange es Religionen gibt, somit wenigstens potentiell, meistens aber sogar aktuell bedroht ist – man denke, wenn man ein grobes Gegenwartsbeispiel wünscht, etwa an die islamischen Länder und vielleicht bald an die Bruchstücke der ehemaligen Sowjetunion – empfiehlt sich der Zusammenschluß möglichst aller Atheisten aus Verteidigungsgründen. Die Verteidigung wird sich dabei vorzugsweise gegen staatliche Maßnahmen zu richten haben, die die Religionen privilegieren, entweder, indem sie ihnen bevorzugte Ausnutzung von Schwächesituationen gestatten, vor allem die Indoktrination von Kindern, oder die Freiheit der Meinungsäußerung zum Zwecke der Religionskritik einschränken, schließlich religiöse Organisationen mit Subsidien, Privilegien oder besonderem Zugang zu staatlichen Propagandaapparaten oder Entscheidungsgremien ausstatten und dadurch an der Staatsautorität teilhaben lassen. (Meines Erachtens wäre es auch wichtig, daß ein Atheistenbund, solange er die Religionen nicht beseitigen kann, wenigstens auf ihre Gleichbehandlung unabhängig von ihrer Größe drängt, da eine religiöse Einheitsorganisation, die der Aufgeklärtheit gegenübersteht, für diese naturgemäß wesentlich gefährlicher werden kann als eine religiöse Aufsplitterung; jede Konkurrenz zwischen Religionen wirkt nach dem Prinzip der mutuellen Parodie ganz ähnlich wie die oben (unter § 3) beschriebene und den Religionen daher verhaßte Existenz religionsloser Menschen. Es scheint mir daher für atheistische Organisationen gänzlich verfehlt und töricht, der Verfolgung kleiner Religionen, der sog. Sekten, wie sie in meinem Land nach den Sannyasins gegenwärtig die Scientologen trifft, mit Schadenfreude zuzusehen oder gar aktiv Vorschub zu leisten.) Eine weitere Aufgabe jedes Atheistenbundes wird zweckmäßigerweise darin bestehen, seine eigenen Mitglieder gegen die religiöse Propaganda zu immunisieren, indem sie ihnen die wichtigsten Denkfehler ihrer Vertreter präventiv klarmacht; denn da die Religionen über einen riesigen bezahlten Apparat verfügen, können sie eine Unzahl spezialisierter, oftmals durch Staatsposten (Journalist, Professor) getarnte Apologeten unterhalten, deren Aufgabe vor allem in der Kultivierung bestimmter Denkfehler besteht, z.B. der petitio principii, der propagandistischen Nutzung echter oder scheinbarer Kenntnislücken der Wissenschaft (eine Sparte davon könnte mit dem Spitznamen »Quantentheologie« charakterisiert werden), der Verwirrung der Beweislastfrage bei positiven Behauptungen usw. Da der Einzelne einem jahrhundertelang eingespielten und vor allem hauptamtlichen und arbeitsteiligen Apparat nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat – er kann nur bestenfalls jeden einzelnen zum Schutze der Religion elaborierten Denkfehler, der gesellschaftlich auf den unterschiedlichsten Ebenen auf ihn einprasselt, persönlich herausfinden und herausarbeiten, kann aber die Verteilung der unterschiedlichen hochgezüchteten Denkfehler auf verschiedene Personen, die noch dazu Gegensätze untereinander vortäuschen können usw., nicht auf Anhieb durchschauen –, ist es für ihn nützlich, wenn die atheistische Organisation ihm einen Teil dieser Arbeit abnimmt und ihn auf die Begegnung mit den – offenen oder verkappten – religiösen Apologeten vorbereitet. Sie nimmt ihm dadurch eine Arbeit ab, an der ein durchschnittlicher Einzelner zu ermüden oder zu ersticken droht.
5. Da die Religion aus den oben dargelegten Ursachen niemals aufhören kann, eine Bedrohung aller aufgeklärten Menschen (»Atheisten«) zu bilden, folgt daraus, daß deren defensive Zielsetzung eine offensive einschließen muß, nämlich die möglichst restlose Vernichtung der Religion; der immanente Charakter der Religion, besonders der dogmatischen Religionen (»Schriftreligionen«), die explizit das sacrificium intellectus benötigen, um bestehen zu können, läßt ihrem Selbsterhaltungsbestreben keine andere Wahl. Die Aufgabe eines Atheistenbundes wird daher auch darin bestehen müssen, durch Aufklärung, Satire und andere zweckdienliche Mittel den Religionen Anhänger zu entziehen, bis sie keine mehr haben.
6. Analog zur Medizin, deren Ziel die Beseitigung von Krankheiten, nicht jedoch die politische oder weltanschauliche Beeinflussung ihrer aktuellen oder möglichen Träger ist, ist das Wesen bzw. Ziel des Atheismus negativ-defensiv, nämlich die Beseitigung einer bestimmten Geistesverwirrung. (Wäre diese nicht gesellschaftlich induziert und dementsprechend gehätschelt und vor Behandlung abgeschirmt, wäre ihre Bekämpfung wahrscheinlich unvergleichlich leichter.) Alles weitere zu dieser Grundeigenschaft des Atheismus ist schon eingangs gesagt worden; die unverzichtbare Konsequenz aus ihr ist aber, daß ein Atheistenbund weltanschaulich bzw. politisch neutral bleiben muß und dementsprechend jedem zumindest bekennenden Atheisten unterschiedslos Platz bieten muß. Aus der Erkenntnis, daß es Götter aller Arten und Verwässerungsstufen nicht gibt, folgt keineswegs eine bestimmte Haltung zum Zähneputzen, oder aktueller gesagt: zur Vivisektion, zum Vegetarismus, zur Seuchenbekämpfung, zur gesetzlichen Abtreibungsfrist, zum jeweils aktuellen Krieg usw. Ein Atheistenbund sollte tunlichst von seinen Mitgliedern keine bestimmte Ansicht zu diesen und allen anderen Fragen der Lebensführung oder Gesetzgebung verlangen, sondern nur zu jeder Gesetzgebung, die einer Religion Sonderrechte einräumt, sowie natürlich auf dem Ausschluß jeder religiösen Vereinigung von der Gesetzgebung selbst. Jede Religion soll nur an ihre Mitglieder Forderungen stellen dürfen (wobei die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft gesichert sein muß), nicht jedoch den Staatsapparat zur Durchsetzung dieser Forderungen sei es gegen ihre Mitglieder, sei es gegen sämtliche Staatsbürger zur Verfügung haben.
Über diesen Minimalkonsens hinaus sollte kein Atheistenbund von seinen Mitgliedern bestimmte Ansichten oder Stellungnahmen verlangen; er verlöre dadurch seinen intendierten Charakter und gewönne denjenigen einer weltanschaulichen oder politischen Vereinigung. Es muß ihm zwar freistehen, den Einfluß der Religion an allen möglichen Stellen der Gesellschaft, selbstverständlich auch der andere als Religionsfragen betreffenden Gesetzgebung, zu diskutieren oder nachzuweisen bzw. anzugreifen; aber er hat sich jeder eigenen positiven Stellungnahme zu den genannten Themen zu enthalten. Die Religion ist ein schweres Übel, aber nicht das einzige; wer andere Übel zusätzlich bekämpfen will, muß die Freiheit behalten, dies auf die ihm richtig dünkende Weise an jeder beliebigen Stelle zu tun, aber nicht, den Atheistenbund selber zu dieser Bekämpfung benutzen oder gar verpflichten zu dürfen, nicht einmal zu der ganz bestimmten Bekämpfungsmethode eines bestimmten über die Religion hinausgehenden Übels, die er oder sie für richtig hält.
Die Vernunft ist, leider!, ein ebenso historisches Phänomen wie ihr Gegenteil; sie gedeiht nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen in der gleichen Weise und mit den gleichen Schwerpunkten. Da infolgedessen auch die aus dem jeweiligen traditionsbildenden Hintergrund entspringenden Wege, die ein Individuum aus den Schlingen der Religion entkommen ließen, unterschiedlich sind, es also zur gleichen Zeit durchaus verschiedene Potentiale von Atheisten gibt, empfiehlt sich die Annahme meiner Grundsätze schon aus praktischen Gründen für alle Befürworter eines Atheistenbundes – jedenfalls, wenn sie gewinnen wollen.
Fritz Erik Hoevels